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Textauswahl

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Zusammengestellt wurde für jede Modellregion eine komparatistisch ausgerichtete Bibliographie, geleitet von einem engen Fiktionsbegriff: Eingang gefunden haben alle fiktionalen Prosagattungen, nicht aber Memoiren, Tagebücher, Briefe, Reiseberichte etc. (wiewohl uns natürlich bewusst ist, dass in vielen Fällen keine absolut trennscharfe Grenze zwischen den Gattungen und Genres besteht). Aus rein pragmatischen Gründen, nämlich um die Textflut etwas einzudämmen, wurden in dieser ersten Forschungsphase auch die Grossgattungen Lyrik und Drama weitgehend ausgeklammert. Der Prototyp des »Literarischen Atlas Europas« befasst sich also vornehmlich mit dem Bereich der Erzählliteratur im engeren Sinn. Zwei Kritikpunkte zu diesem Vorgehen sollen hier kommentiert werden:

  1. Natürlich sind gerade manche der von uns ausgeschlossenen Texte oder Textsorten entscheidend für die literarische Prägung eines ausgewählten Raumes – ein Umstand, der zumindest im Gesamtkommentar zu einer Modellregion (wenn auch nicht auf den Karten) angesprochen werden muss.
  2. Selbst mit den genannten Einschränkungen ist es unmöglich ist, sämtliche Texte zu erfassen, die sich auf eine Modellregion beziehen. Schauplatzbezogene Recherchen sind sehr aufwendig in der Durchführung und mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden. Schauplätze und Handlungsräume sind längst nicht immer aus dem Titel oder einer Katalogbeschlagwortung ablesbar. Wichtige Quellen sind Sekundärliteraturbeiträge zu einzelnen Autoren (die z.B. eine biographische Verbindung zur Modellregion haben), Literaturgeschichten, Monographien und Anthologien zu der untersuchten Gegend, Internet-Datenbanken und nicht zuletzt die Rücksprache mit Fachkolleginnen und -kollegen bzw. mit Experten aus anderen Philologien. In zahllosen Arbeitsschritten wird so die Liste laufend ergänzt und korrigiert. Die Grundgesamtheit (so der statistische Fachausdruck) der Texte, die sich auf eine Modellregion beziehen, wird aber trotz aller Bemühungen unbekannt bleiben.

Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Textauswahl und der detaillierten Textanalyse der drei Modellregionen des »Literarischen Atlas Europas«:

Prag: 800 Texte (1743 – 2008) davon 70 detailliert analysiert
Nordfriesland/Dithmarschen: 230 Texte (1840 – 2008) davon 120 detailliert analysiert
Vierwaldstättersee/Gotthard: 165 Texte (1750 – 2010) davon 165 detailliert analysiert
Stand: März 2012

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Die andere Seite des Problems ist, dass in manchen Bereichen ein Überschuss an Material zu konstatieren ist (z. B. bei den Werken eher regional bedeutsamer Autoren und Autorinnen, die sich schriftstellerisch ein Leben lang mit der Region befassen, in der sie leben). Aufgrund der beschränkten Zeit- und Personalressourcen können nicht alle bibliographierten Texte gelesen, interpretiert und in die Datenbank eingegeben werden. Wie also ist eine repräsentative Textbasis zu gewinnen? Im Falle des »Literarischen Atlas Europas« wird Literatur zunächst ungeachtet ihres kanonischen Wertes oder Nicht-Wertes gesammelt. In der Modellregion Vierwaldstättersee/Gotthard kommt es z.B. zu einer auffallenden Mischung von regional verankertem Schreiben, berühmten Schweizer Autoren und ausländischen Schriftstellern von Weltrang. Es gibt aus dieser Fülle keine »richtige« Auswahl, aber eine Reihe von Massnahmen, die aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen zu einem durchaus brauchbaren Textcorpus führen. Entscheidend sind die schon oben erwähnten Ausschlusskriterien, um das zu bearbeitende Feld überschaubarer zu gestalten: Ausschluss von Gattungen und Genres (z.B. keine autobiographischen Zeugnissen wie Tagebücher, Briefe, Reiseberichte), Voraussetzung bestimmter Publikationsformen (die Texte müssen in Buchform erschienen sein), Beschränkung auf einen bestimmten Zeitabschnitt (z.B. auf ein paar signifikante Jahrzehnte), Auswahl aus Gesamtœuvres (bei den Regionaldichtern und -dichterinnen nur jene Werke untersuchen, die auch in Literaturgeschichten und Forschung überhaupt rezipiert worden sind). Was heisst das – unbekannte Grundgesamtheit und Auswahl aus bekannten Werkkomplexen – nun für die statistischen Visualisierungen? Alles in allem folgt statistische Literaturkartographie damit den Prinzipien der schliessenden Statistik: Es “liegen die Daten bzw. die Informationen nur für einen Teil des interessierenden Untersuchungsobjektes vor. Insofern besteht hier unvollständige Kenntnis. Eine für die vollständige Kenntnis erforderliche und umfassende Datenerhebung wäre zu teuer, zu langwierig oder praktisch unmöglich. Aufgabe der schließenden Statistik ist es, auf Grundlage der relativ wenigen vorliegenden Daten Kenntnisse über das gesamte Objekt zu erlangen. Anders ausgedrückt, es werden Rückschlüsse von der Eigenschaft der Teilgesamtheit (Stichprobe) auf die Eigenschaft der übergeordneten Gesamtheit gezogen.” (siehe Bibliographie: Bourier 2009: 3).

Fazit

Vollständigkeit in der Textbasis wird angestrebt, kann aber zugegebenermassen nicht gewährleistet werden. Entscheidend ist es, die Textauswahl begründen zu können (und das Wissen darum, dass eine andere Akzentuierung der Auswahl unter Umständen auch zu anderen Karten hätte führen können). Zudem lässt ein datenbankbasiertes literaturgeographisches System laufend Korrekturen und Ergänzungen in der Textbasis zu. Die Titellisten sind im »Literarischen Atlas Europas« auf verschiedenen Wegen abrufbar, so dass immer klar erkennbar ist, welche Textinterpretationen in welches Kartenbild eingegangen sind. Aus der literaturgeographischen Untersuchung und literaturkartographischen Darstellung eines solchen notwendig unvollständigen Textcorpus lassen sich aber durchaus Tendenzen, Trends und Hypothesen ableiten, die wiederum als Ausgangspunkt für weiterführende Interpretationen dienen können.

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