Ein Literarischer Atlas Europas » lektüre http://www.literaturatlas.eu results and insigths of an interdisciplinary atlas project beween humanities and cartographers Wed, 25 Mar 2015 16:06:52 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.5.1 Wissenschaftsblog http://www.literaturatlas.eu/2012/11/05/wissenschaftsblog-zum-projizierten-orten/ http://www.literaturatlas.eu/2012/11/05/wissenschaftsblog-zum-projizierten-orten/#comments Mon, 05 Nov 2012 13:55:55 +0000 barbara piatti http://latlas.ikgserve.ch/?p=2449 Im Wintersemester 2012 unterrichtet Barbara Piatti an der Universität Basel ein Seminar zum Thema “projizierte Orte”. In diesem Rahmen entsteht gerade ein Wissenschaftsblog, an dem Studierende und Doktorierende der Literaturwissenschaften mitarbeiten:

www.projizierteorte.wordpress.com

Eine ausführliche Beschreibung zum Seminar finden Sie hier:

Sehnsuchtsorte, Erinnerungsräume - Annäherungen an ein literaturgeographisches Konzept

Nach einer kurzen Einführung in den Bereich der Literaturgeographie und in literaturwissenschaftlich fruchtbare Raumtheorien wird die Kategorie der 'projizierten Orte' besonders eingehend beleuchtet. Diese werden, so unsere Definition, von den handelnden Figuren nicht 'betreten', vielmehr werden sie im Modus von Erinnerungen, Sehnsüchten, Tag- und Nachtträumen in die effektiven Handlungsräume eingeblendet.

In Flauberts Madame Bovary (1856) träumt die Titelheldin in der normannischen Provinz von Paris. Ebenso sehnen sich Tschechows Drei Schwestern (1901), mehr oder minder gefangen in einer langweiligen Garnisonsstadt, nach dem pulsierenden Moskau. Auch Max Frischs Montauk (1975) ist ein gutes Beispiel: Während die elegische Haupthandlung in New York und auf Long Island angesiedelt ist, besteht das Erzählte über weite Strecken aus Rückblenden, Erinnerungsfragmenten des Ich-Erzählers, durch die Schweizer Regionen wie das Tessin und Zürich gewissermassen in die Haupthandlung 'hereingeholt' werden.
An ausgewählten Textbeispielen soll untersucht werden, wie die projizierten Räumen eingeführt und geschildert werden (literarische Technik), welche Funktionen sie im Erzählgefüge erfüllen (inhaltliche Analyse) und mit welchen psychologischen Begriffen, die Figurenpsyche betreffend, die Modi ihres Erscheinens beschrieben werden können (Träume, Alpträume, Sehnsüchte, Erinnerungsfetzen, Phantasien, Halluzinationen etc.).

Abschliessend wird die Frage diskutiert, ob die erstaunliche Vielfalt der 'projizierten Orte' sich sinnvoll in eine Typologie überführen lässt. Auch wird in einer Sitzung untersucht, ob es Parallelen zwischen literarischer und filmischer Technik hinsichtlich der Produktion projizierten Räume gibt.

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Arbeit mit historischen Karten http://www.literaturatlas.eu/2012/04/11/literaturgeographische-arbeit-mit-historischen-karten/ http://www.literaturatlas.eu/2012/04/11/literaturgeographische-arbeit-mit-historischen-karten/#comments Wed, 11 Apr 2012 14:35:46 +0000 literaturatlas http://latlas.ikgserve.ch/?p=2358 Arbeit mit historischen Karten: Literaturgeographische Recherche am Beispiel von Liliencrons Novelle »Greggert Meinstorff«

Von Kim Seifert

Zu den Aufgaben der Literaturwissenschaftler innerhalb des Projektes 'Ein literarischer Atlas Europas' gehört auch die Recherche und Nutzung von allerlei Zusatzmaterial, das für die literaturgeographische Analyse notwendig ist. Ein Problem, das hier prominent auftaucht, ist die Tatsache, dass sich natürlich auch der sogenannte Georaum im Laufe der Zeit massiv wandeln kann. Oft ist dann das Beiziehen von historischem Kartenmaterial unabdingbar. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen.

Der in Kiel geborene Dichter Detlev von Liliencron befindet sich nur kurz zwischen 1882 und 1883 als Hardesvogt auf der Insel Pellworm; dennoch handelt es sich hierbei um eine literarisch sehr produktive Phase, aus der vor allem die fünf sogenannten »Nordseeküstennovellen« hervorgegangen sind.

Die Schauplätze dieser Novellen befinden sich entweder direkt auf oder in unmittelbarer Nähe von Pellworm: Der Handlungsraum besteht also ausschliesslich aus dieser Insel und den umliegenden Halligen und Inseln. Für Liliencron lässt sich hier die These von der Subregion innerhalb der Gesamtregion Nordfriesland/Dithmarschen bestätigen: Wer über Inseln und Halligen schreibt, betritt literarisch nicht das Festland (siehe Beitrag »Das Profil einer Modellregion - Nordfriesland literaturgeographisch betrachtet«).

Für die literaturgeographische Recherche dieser Texte ergeben sich Besonderheiten.

Die nordfriesische Inselwelt unterliegt selbstverständlich stetigem geographischem Wandel, den es bei einer Bearbeitung von Texten des 19. Jahrhunderts zu berücksichtigen gilt. Man mag nun einwerfen, die Diskrepanz zwischen historischen und aktuellen Karten seien in allen Regionen von Bedeutung. Doch für die Insel- und Halligwelt gilt dies in potenzierter Form: Sturmfluten und Deichbau haben die Küstenlinie über die Jahrhunderte immer wieder verändert.

Wie wirkt sich dieser Umstand auf die konkrete Kartierung von Texten aus? Als Beispiel möchte ich im Folgenden die Recherche und Arbeit an Liliencrons kurzer Novelle »Greggert Meinstorff« (1888) vorstellen.

Die Erzählung spielt Ende des 18. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte des gefürchteten und geachteten Statthalters der friesischen Inseln Greggert Meinstorff, der mit einer jungen Wirtstochter Pellworms Ehebruch begeht. Getrieben vom Bewusstsein der Schwere seines Vergehens fährt Greggert in einer stürmischen Nacht todesmutig mit dem Boot hinaus, um den Bewohnern der brennenden Hallig Bubhever zu Hilfe zu eilen, und kommt dabei ums Leben.

Abb. 1: Detailausschnitt der Einzeltextkarte von »Greggert Meinstorff« (Detlef von Liliencrons)

Abb. 1: Detailausschnitt der Einzeltextkarte von »Greggert Meinstorff« (Detlef von Liliencrons)

Betrachtet man nun die Schauplätze der Novelle, stellt man fest, das diese sich unterschiedlich gut verorten lassen: Das Wirtshaus liegt eindeutig am Westerdeich, Greggerts Wohnhaus steht irgendwo auf Pellworm und ist daher nur zonal zu verorten. Spannend wird es bei der Kirche »Zu unserer lieben Frauen auf dem Pferde«. Sie scheint keine Referenz zum Georaum zu haben - es gab und gibt auf Pellworm die Alte und Neue Kirche (Abbildung 1).

Verwirrend ist vor allem der Schauplatz des furiosen Endes der Novelle, als Greggert die Hallig Bubhever brennen sieht und am Hafen im Norden der Insel mit seinem Boot untergeht. Hallig Bubhever? Auf einer aktuellen Karte der Region gibt es keine solche Hallig. Recherchiert man jedoch historisch Karten der Region Pellworm und Nordstrand, so kann man auf diesen ersehen, dass diese beiden Inseln einst eine zusammenhängende Insel bildeten (siehe Abbildung 2). Alt-Nordstrand brach dann bei einer verheerenden Sturmflut 1634, der zweiten grossen Mandränke, praktisch »auseinander« und ein Grossteil versank im Meer.

Abb. 2: Pellworm und Nordstrand, historische Karte

Abb. 2: Pellworm und Nordstrand, historische Karte

Auf Alt-Nordstrand gab es, wie aus der Karte ersichtlich, ein Kirchspiel namens Bubhever. Aus einer weiteren Karte geht hervor, dass der heutige nordöstliche Teil der Insel Pellworm erst 1938, also weit nach Liliencrons Schaffenszeit, eingedeicht wurde (siehe Abbildung 3). Heute heisst dieser Teil der Insel »Bubheverkoog« (siehe Abbildung 4).

Abb. 3: Pellworm und Nordstrand, historische Karte mitsamt Eindeichungen

Abb. 3: Pellworm und Nordstrand, historische Karte mitsamt Eindeichungen

Abb. 4: Pellworm historische Detailkarte

Abb. 4: Pellworm historische Detailkarte

Doch zurück zu Greggert Meinstorff. Anhand der Recherche historischer Karten wird klar, dass Liliencrons Hallig Bubhever einen deutlichen Bezug zum historischen Georaum hat; allerdings konnte leider keine der Karten einen Hinweis darauf geben, ob es Ende des 18. Jahrhunderts eine Hallig Bubhever gegeben hat. Aufgrund des stetigen Wandels der Region scheint dies jedoch zumindest im Bereich des Möglichen. Letztlich bleibt das Verhältnis von Georaum und Textraum an dieser Stelle unentschieden. Eine Kartierung wird aber möglich, wenn Liliencron schreibt:

'Als er gegen Morgen (…) noch einmal den Turm bestieg, bemerkte er im Norden der Insel einen Feuerschein. Er überzeugt sich bald, dass diese von der Hallig Bubhever, die durch einen breiten Meeresarm von Schmerhörn getrennt war, herüberleuchtete. (…) Der Wind, gradeaus von Norden kommend, packte ihn; (…) Sein Ziel war das Fährhaus, wo, an einem eingebognen Teil des Steindeichs ein kleiner Hafen lag, in dem die Boot ruhten, die den Verkehr mit der Hallig Bubhever vermittelten.'

Dieser Hafen ist der entscheidende Schauplatz am Ende der Novelle; hier stürzt sich Greggert in die gefährlichen Fluten. Mit allen Hinweisen lässt sich der Schauplatz zonal als ehemalige Küstenlinie im Nordosten der Insel einzeichnen (siehe Werkkarte Greggert Meinstorff). Dass diese Linie heute mitten auf der Insel liegt, mag auf den ersten Blick verwunderlich sein, erklärt sich aber anhand der veränderten Küstenlinie von 1938.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass gerade historische Karten ein manchmal unerlässiges Hilfsmittel bei der Verortung von Schauplätzen und/oder projizierten Orten sind. Für eine weitere Projektphase wäre es wünschenswert, auch historische Karten - wo hilfreich - in die Datenbank einzupflegen, um dem geographischen Wandel Rechnung zu tragen und den Texten so gerecht wie möglich zu werden.

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Prag in historischen Romanen http://www.literaturatlas.eu/2012/03/15/prag-in-den-historischen-romanen-von-alois-jirasek/ http://www.literaturatlas.eu/2012/03/15/prag-in-den-historischen-romanen-von-alois-jirasek/#comments Thu, 15 Mar 2012 15:44:02 +0000 literaturatlas http://latlas.ikgserve.ch/?p=1334 Prag in den historischen Romanen von Alois Jirásek - Eine literaturgeographische Lektüre

von Marie Froliková

Die grossen historischen Romane von Alois Jirásek (1851-1930) erfassen die wichtigsten Zeitepochen und Ereignisse der tschechischen Geschichte. Die Romane Proti všem (1894) und Mezi proudy (1-3, 1891) beschreiben die Anfänge der hussitischen Bewegung, die Hussitenkriege und den allmählichen Zerfall der Hussitenbewegung. Der Roman Temno (1915) bezieht sich thematisch auf die Rekatholisierung des tschechischen Volkes am Anfang des 18. Jahrhunderts. In dem aus fünf Teilen bestehenden Roman F. L. Věk (1890-1907) schildert Jirásek die Tätigkeit der nationalen Aufklärer in Prag und in der tschechischen Kleinstadt Dobruška vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte, vor allem der Napoleonischen Kriege.

Was den Handlungsraum angeht, so ist festzustellen, dass Prag in allen genannten Romanen eine der Haupthandlungszonen ist. Die Trilogie Mezi proudy ist insbesondere für die Evokation des ehemaligen jüdischen Ghettos wichtig, das am Ende des 19. Jahrhunderts saniert wurde, der Roman Temno für die Evokation Prags der Barockzeit mit seiner religiösen Atmosphäre. Der Roman F. L. Věk evoziert sehr anschaulich Prag um 1800 und die Feldzüge der verfeindeten Armeen mitsamt den Pragbesuchen der europäischen Herrscher, die in die kriegerischen Auseinandersetzungen verwickelt waren. Zu weiteren Handlungszonen gehören in den hussitischen Romanen die Städte und Festungen in Südböhmen, ferner die Umgebung der Burg Křivoklát in Mittelböhmen und Ostböhmen. In Temno und F. L. Věk werden neben dem Stadtraum Prag und den Städten in Westböhmen noch der Kleinstadtraum und Landraum Ostböhmen aufgebaut.

Die Prager Schauplätze sind vorwiegend im historischen Stadtzentrum angesiedelt und sind topographisch korrekt dargestellt - d. h. sie sind kartierbar. So wird der Bezug zwischen dem Textraum und seinem Vorbild kenntlich. Ein Problem bedeutet jedoch die Tatsache, dass Jiráseks Romane auch Räume entwerfen, die bis heute entweder nicht erhalten geblieben oder unbenannt worden sind. Dies gilt in erster Linie für viele Strassen, die heute andere Namen haben als zu der Zeit, in der die Romane spielen (z. B. die heutige Karlsstrasse ist in dem Roman F. L. Věk unter dem Namen 'Jezuitská ulice' zu finden), und nicht minder für viele heute nicht mehr existierende Sehenswürdigkeiten und Häuser.

Abb. 1: Alois Jirásek: »F. L. Věk III« importierte Schauplätze (rot) und importierte Projizierte Räume (violett)

Abb. 1: Alois Jirásek: »F. L. Věk III« importierte Schauplätze (rot) und importierte Projizierte Räume (violett)

Die Recherchen erfordern aus diesem Grunde die Einbeziehung von Sekundärliteratur, die der Topographik Prags gewidmet ist.

Zu den verschwundenen Räumen gehören insbesondere Kirchen, Tore, Spitäler und nicht zuletzt auch Gärten (z. B. gab es den Kanálská-Garten "irgendwo" in dem Stadtteil Vinohrady). In F. L. Věk ist öfters von dem "Poříčská-Tor" und dem "Koňská-Tor" die Rede. Das Poříčská-Tor, das an dem Ort stand, wo es heute die Strasse Na Poříčí gibt (diese Strasse gehört dem Stadtteil "Petrská čtvr" an, der Bestandteil der Neustadt ist), diente lange Zeit als das Haupteintrittstor für alle, die nach Prag reisten (so auch in F. L. Věk). [...]

Typisch für Jiráseks Romane ist, dass die Figuren von einer Handlungszone in die anderen reisen und sich innerhalb der Haupthandlungszone Prag auch viel bewegen. Das macht das Bild Prags sehr dynamisch. Am dynamischsten ist es in den Romanen Temno und F. L. Věk. Dies deshalb, weil in diesen Texten verschiedene Prozessionen beschrieben sind, die entweder aus religiösen oder politischen Anlässen von der Prager Altstadt über die Karlsbrücke zur Prager Burg pilgern. [...]

Abb.2: Alois Jirasek: »F. L. Věk III « Bewegungen der Figuren - Wege durch das Prager Zentrum

Abb.2: Alois Jirásek: »F. L. Věk III « Bewegungen der Figuren - Wege durch das Prager Zentrum

In allen Kategorien (Schauplatz, projizierter Raum, Marker usw.) werden geographische Angaben angehäuft, die, insbesondere im Falle des Romans F. L. Věk, der, wie schon erwähnt, die Napoleonischen Kriege zum Thema hat, die europäische Dimension des Romans sichtbar machen. Prag ist in ihnen wegen seiner historischen und politischen Bedeutung die strategisch wichtigste Handlungszone mit einer überregionalen Geltung. [...]

Jiráseks Romane zeichnen sich ferner dadurch aus, dass in ihnen der Kategorie 'projizierter Raum' eine grosse Bedeutung zukommt. Da die Protagonisten an dem öffentlichen Leben und der aktuellen politischen Situation interessiert sind, sind sie psychisch völlig in der realen Welt verankert, was zur Folge hat, dass sie auch in ihren Gesprächen, die sie miteinander führen - z. B. in dem Salon der Gräfin Skronská in der Jeaná-Strasse in der Neustadt -, sowie in ihren Gedanken stets den realen Raum berücksichtigen.

[...]

In der Schilderung Prags in dem Roman Temno ist Jirásek sehr um die Erfassung des Geistes der Barockzeit bemüht. Es sind die Schönheit der Barockarchitektur und der Prunk der jesuitischen Veranstaltungen und Feierlichkeiten, die die Protagonistin Helenka, die Tochter des Protestanten Machovec aus Ostböhmen, der gezwungen wurde, nach Sachsen zu emigrieren, wenn er seinem Glaubensbekenntnis treu bleiben wollte, für Prag, wo sie gemeinsam mit ihrem Bruder Tomáš in einem katholischen Hause 'religiös' umerzogen wird, begeistern. Die Jesuiten haben nach dem Dreissigjährigen Krieg ihre Position verfestigt, so dass z. B. die Betlehemskapelle, in der am Anfang des 15. Jahrhunderts Jan Hus predigte, nun in ihrem Besitz ist und hier u. a. die Himmelfahrt der Jungfrau Maria pompös gefeiert wird.

In dem Roman wird gezeigt, wie die Jesuiten das Volk für den katholischen Glauben mithilfe von prachtvollen Inszenierungen zu gewinnen versuchen - Prag erscheint in dieser Hinsicht als eine für solche Inszenierungen besonders geeignete Stadt. Die Hervorrufung des Eindrucks der Schönheit ist sozusagen eine wirksame Strategie der katholischen Propaganda. Diesen Zwecken wurde z. B. der Jesuitengarten dienlich gemacht, der sich einst auf der Kleinseite unweit vom Moldauufer erstreckte. In die Romangeographie wurden auch diejenigen Gebiete von Prag einbezogen, die später der Stadt eingemeindet worden sind, am Anfang des 18. Jahrhunderts aber zur Stadt nicht gehörten. Es ist das heutige Stadtviertel Žižkov, wo damals Weinberge waren. Von den damaligen Dörfern, die heute Prager Stadtviertel sind, werden in dem Roman Podolí, Michle, Libeň, Troja, Bubeneč und Holešovice erwähnt.

In allen Romanen von Alois Jirásek wird Prag in historischen und politischen Kontexten literarisiert, was ein realistisches Bild der Stadt entstehen lässt. Der Wirklichkeitsnähe der Raumgestaltung entspricht, dass man in Jiráseks Romanen keine synthetisierten Räume findet.

Zu fragen bliebe allerdings, inwieweit zum Beispiel die Lokalisierung der Wohnungen der Romanfiguren mit der Realität übereinstimmt.

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Literarische Innerschweiz (Film) http://www.literaturatlas.eu/2012/03/13/the-literary-central-switzerland-a-cinematic-approach/ http://www.literaturatlas.eu/2012/03/13/the-literary-central-switzerland-a-cinematic-approach/#comments Tue, 13 Mar 2012 16:43:04 +0000 literaturatlas http://latlas.ikgserve.ch/?p=1309 Literarische Innerschweiz – eine filmische Annäherung

von Claudia Schmid (2011)

“Die Vierwaldstättersee-Gotthard-Region ist zweifellos eine der am dichtesten beschriebenen Literaturlandschaften Europas.”

Barbara Piatti, Literaturwissenschaftlerin

Die spektakuläre Landschaft der Vierwaldstättersee-Region mit ihren Tälern und Berggipfeln hat literarische Spuren hinterlassen. Namhafte Autorinnen und Autoren der Weltliteratur sowie zahlreiche lokal verankerte Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben sich schreibend mit der Region befasst. Der Dokumentarfilm führt auf eine faszinierende Reise durch Innerschweizer Landschaften und Buchseiten. Er stellt eine Auswahl historischer und aktueller Autorenpersönlichkeiten vor. Stimmige Textzitate lassen eintauchen in vergangene und visionäre Gedankenwelten und machen Lust auf eigene Lese-Entdeckungen.


Literarische Innerschweiz – eine filmische Annäherung uploaded by anneka reuschel on Vimeo.


Literarische Innerschweiz, eine filmische Annäherung,
von Claudia Schmid, CH 2011, 82′, Dialekt/Deutsch
(C) Albert Koechlin Stiftung AKS.
Der Film erscheint als Kinofilm und als Beilage des Buches: Ulrich Suter, Die literarische Innerschweiz. Regionen, Porträts mit Leseproben, Literatenverzeichnis. Luzern: Albert Koechlin Stiftung 2011.


Literarische Innerschweiz Flyer

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Berlin-Literatur und Stadttopographie http://www.literaturatlas.eu/2012/03/12/berlin-literature-before-and-after-the-reunification-from-a-literary-geography-perspective/ http://www.literaturatlas.eu/2012/03/12/berlin-literature-before-and-after-the-reunification-from-a-literary-geography-perspective/#comments Mon, 12 Mar 2012 16:50:37 +0000 literaturatlas http://latlas.ikgserve.ch/?p=1281 » 'über die Mauer' und das Loch mitten in Berlin. Berlin-Literatur vor und nach der Wende - literaturgeographisch betrachtet«

von Giannina Leonie Widmer (Masterarbeit, Universität Basel 2010), ausgezeichnet mit dem Nachwuchsförderpreis “Schwizerhüsli Basiliensis”

Bemerkung: Die Masterarbeit bezieht sich teilweise auf Kategorien und Konzepte aus dem 'Literarischen Atlas Europas'. Die Studie steht am Ende des Artikels als Download bereit.

Auszüge aus dem Gutachten von Barbara Piatti:

Die vorliegende Arbeit ist literarischen, erzählenden Texten gewidmet, die in Berlin spielen - vor und nach 1989, von der Autorin als 'Mauertexte' und 'Wendetexte' bezeichnet. Der Fokus der Interpretation ist dabei explizit auf Schauplätze und Handlungsräume gerichtet, kurz: auf die räumliche, geographische und topographische Dimension der ausgewählten Literatur. [...]

In ihrer theoretischen Grundlegung bezieht sich die Autorin auf bestehende Konzepte einer neueren Literaturgeographie. Ähnlich wie Piatti (2008) geht die Autorin von einer generell referentiellen und deshalb beschreib- und deutbaren Beziehung zwischen Real- oder Georäumen und Texträumen aus:

'Die Ausgangsthese lautet dementsprechend, dass der je zeitspezifische Georaum den Metaraum massgeblich organisiert.' (S. 4).

Kartiert werden vier Beispiele deutscher Erzählliteratur, für deren Wahl plausible Gründe genannt werden. Bereits in der Beschreibung des Vorgehens stellt die Autorin ihren ebenso kritischen wie kreativen Geist unter Beweis:

'Die Kartierungsexperimente zeigen nicht zuletzt auf, wo literaturgeographische Kategoriebegriffe überdacht oder differenziert werden müssten, um den einzelnen Erzählwerken gerecht zu werden.' (S. 6).

Besonders eindrücklich sind die selbst konzipierten literaturgeographischen Karten, die mit den Interpretationen aufs Engste verknüpft sind und damit den Anspruch erfüllen, tatsächlich Analyseinstrumente zu sein und nicht bloss Illustrationen. In diesem Zusammenhang ist der pragmatische Entscheid der Autorin zu loben, die Karten in einer handgezeichneten, skizzenhaften, aber gerade deswegen sehr charmanten Form zu belassen [...].

Stellvertretend seien hier zwei Analysen kurz referiert:

Für Uwe Johnsons Zwei Ansichten (1965) arbeitet die Autorin heraus, dass die Figurenräume von Protagonist und Protagonistin, B. und D., voneinander geschieden sind und keinerlei Überschneidungen aufweisen (S. 19). Zudem scheint sich der Roman 'einer präzisen Kartierung geradezu zu entziehen' (S. 20). Auch die Ausführungen zum Henriettenplatz, einem Hauptschauplatz, werden stringent formuliert. Bei ihm liegt 'keine aktuell-realreferente Beschriftung vor. Entweder handelt es sich um einen fingierten oder aber um einen transformierten Ort, der zum Zweck der Verschleierung umbenannt wurde.' (S. 32). Diese Beobachtung passt hervorragend zur Logik des Textes, denn diese Transformation/Verschiebung/Umbe-nennung ist als gewollte Chiffrierung lesbar: Am Henriettenplatz liegt das Büro der Fluchthilfegruppe, das so buchstäblich getarnt wird:

'Die Strategie des Verdeckens, die sich in indirekten Referentialisierungen, vor allem aber im transformierten Hauptschauplatz äussert, ist die adäquate Form für diese Fluchtgeschichte.' (S. 36).

Bei einem anderen Raummotiv, der Ost-West-Grenze wünscht sich die Verfasserin eine Erweiterung des Kategoriensets: B. passiert die Grenze oft in einem tranceähnlichen Zustand, 'so dass die Grenzzone auch hier deutlich projektive Züge annimmt.' (S. 30). 'Es zeigt sich an dieser Stelle auf jeden Fall noch einmal, dass figurenspezifische Einstellung und Wahrnehmung einer Raumeinheit von Bedeutung sind und es wichtig wäre, diese kartographisch zu erfassen bzw. zum Ausdruck bringen zu können.' (ebd.).

Gerade an dieser Interpretation zeigt sich auch, dass die Autorin niemals Gefahr läuft, sich in die einmal gewählte Methode zu verstricken: So verzichtet sie auf ein mühevolles und zum vornherein unmögliches Abgleichen mit dem Georaum im Einzelnen:

'Wenn an dieser Stelle auf eine detektivische Recherche zum Zwecke endgültiger Bestimmung dieser Orte verzichtet wird, dann deshalb, weil ein solches Unterfangen wohl kaum zusätzlich Aufschluss über die Organisation des Handlungsraums gäbe, als durch die Problematisierung des Prinzips indirekter Referentialisierung ohnehin deutlich geworden ist.' (S. 22).

Vielmehr hält die Autorin fest, dass sich schwer lokalisierbare Orte und verdeckte Lagebeschreibungen gegen Ende des Textes, 'wenn sich die Hinweise auf die Flucht der D. verdichten' (S. 22), häufen: Die im Text entfaltete Geographie korreliert also deutlich mit dem inhaltlichen Geschehen.

Bei der Analyse von Peter Scheiders Der Mauerspringer (1982) richtet die Autorin ihr Augenmerk u.a. auf das Verhältnis von Rahmen- und Binnenhandlung(en). Entgegen dem bestehenden literaturgeographischen Kategoriensystem deutet die Verfasserin die Orte der Binnenerzählungen nicht als projizierte Orte (= Orte, die in der Vorstellung des Rahmenerzählers aufgerufen/evoziert werden). Sie scheinen ihr (und dies zu Recht) als Schauplätze und Handlungszonen klassifizierbar zu sein, denn sie nehmen insgesamt mehr Raum ein als die Rahmenhandlung und sind zudem 'entschieden handlungs- und spannungsreicher' (S. 41). Die Autorin schlägt überdies vor, auf der Binnenebene wiederum zwischen 'Orten mit Schauplatz-charakter und projizierten Orten' (S. 41) zu differenzieren. Sie entscheidet sich schliesslich für zwei getrennte Darstellungen in Form zweier Karten die sich miteinander vergleichen lassen (Karte 2a und 2b):

'Hinsichtlich der fokussierten Handlungsräume erweisen sich Rahmen- und Binnenhandlungs-raum als weitgehend deckungsgleich.' (S. 42).

Karte 2a: Peter Schneider Der Mauerspringer (1982) Rahmenhandlungsebene - Karte: Giannina Widmer

Karte 2a: Peter Schneider Der Mauerspringer (1982) Rahmenhandlungsebene - Karte: Giannina Widmer

Karte 2b: Peter Schneider Der Mauerspringer (1982) Binnenhandlungsebene - Karte: Giannina Widmer

Karte 2b: Peter Schneider Der Mauerspringer (1982) Binnenhandlungsebene - Karte: Giannina Widmer

Des weiteren hält die Verfasserin fest, dass Schneider zahlreiche Toponyme zur Modellierung seines Handlungsraums einsetzt - eines Handlungsraums, der an keiner Stelle vom Georaum abweicht, ganz im Unterschied zum zuvor besprochenen Text von Uwe Johnson.

Im Sinne eines Ausblicks auf die Möglichkeiten quantitativ-statistischer Untersuchungen widmet sich die Autorin abschliessend einem erweiterten Textcorpus von insgesamt 16 Mauer- und Wendetexten. Dabei geschieht die Kartierung 'unter vergleichendem Blickwinkel im Bewusstsein, dass eine andere Textauswahl unter Umständen andere Kartenbilder ergeben hätte.' (S. 82). Die Textgruppen werden hinsichtlich zweier Aspekte untersucht, die bereits in den Einzeltextanalysen als Strukturmerkmale aufgetaucht sind: Subterrane Örtlichkeiten und Transformationen/Remodellierungen des Georaums. Dabei gelingt es der Autorin, die einzelnen Lektüren nun in griffige Gesamtschauen münden zu lassen:

'Ist in den Mauertexten eine Bewegungstendenz nach oben festzustellen, so dringen die Figuren der beiden diskutierten Wenderomane nach unten, in verborgene Schichten (vor)' (S. 90)

­- und zwar im eigentlichen wie auch im übertragenen Sinne. Das Kartenbild 5 macht deutlich, dass die subterrane Dimension überwiegend von den Wendetexten eröffnet wird, wobei es vor allem die U-Bahn-Linien sind, 'die zu Orten des Geschehens werden.' (S. 92). Auch hält die Autorin fest, dass 'nur wenige unterirdische Schauplätze punktgenau verortet werden, vielmehr tritt das Subterrane an sich als Raum in Erscheinung, der mit der Grenze eng verknüpft ist.' (S. 95).

Karte 5: Subterrane Schauplätze und Handlungszonen - Karte: Giannina Widmer

Karte 5: Subterrane Schauplätze und Handlungszonen - Karte: Giannina Widmer

Auch für das Themenfeld Transformation und Remodellierung kann die Autorin mit überraschenden und neuen Einsichten aufwarten:

'Eine Erfassung der in den 16 ausgewählten Texten auftretenden Remodellierungen des Georaums (Karte 6) führt überdeutlich vor Augen, wie stark die Stadttopographie Berlins ist. Topographische Abweichungen und Modifikationen innerhalb des Realraums sind nur ganz vereinzelt auszumachen, und zwar allesamt nach der Wende. Zwei der drei Fälle von Transformationen betreffen dabei in der Tat den Potsdamer Platz.' (S. 97).

Karte 6: Remodellierung des Georaums - Giannina Widmer, Basel

Karte 6: Remodellierung des Georaums - Giannina Widmer, Basel

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Nordfriesland - Der Raum als Akteur http://www.literaturatlas.eu/2012/02/16/northern-frisia-space-as-actor/ http://www.literaturatlas.eu/2012/02/16/northern-frisia-space-as-actor/#comments Thu, 16 Feb 2012 15:05:20 +0000 literaturatlas http://latlas.ikgserve.ch/?p=796 Nordfriesland - Der Raum als Akteur

von Kathrin Winkler

In der Literaturgeographie geht es immer auch darum, den Schauplatz (oder projizierten Ort) in seiner Funktion für den Text zu benennen. Hierfür steht beispielsweise die Kategorie der protagonistisch-physischen Raumfunktion zur Verfügung. Diese Kategorie erfasst den Raum als Akteur, der in den Verlauf der Handlung eingreift. Wie kann man sich ein solches ‘Handeln’ des Raumes vorstellen?

Abb. 1: Einzelobjektdarstellung: Schauplätze und Projizierte Räume mit protagonistisch-physischen Qualitäten, Modellregion Nordfriesland

Abb. 1: Einzelobjektdarstellung: Schauplätze und Projizierte Räume mit protagonistisch-physischen Qualitäten, Modellregion Nordfriesland

Im Falle der Modellregion Nordfriesland-Dithmarschen ist es zumeist die Nordsee, die Einfluss auf die Fabel nimmt. Das stete Handlungspotenzial des Raumes in Form von möglichen Naturkatastrophen (Sturmfluten, Überschwemmungen, etc.) bildet in vielen Texten die thematische Kulisse für die Handlung (Abb. 1): Wenn in Storms Schimmelreiter der Grossteil der Handlung nicht nur auf dem Deich spielt, sondern auch den Deichbau zum zentralen Thema hat, dann ist der aufgerufene Raum in seiner Spezifik als Subregion ‘Küste’ mehr als bloss kulissenhaft. Das Personal der Erzählung rechnet mit einem Eingreifen der Natur und richtet seine Handlungen danach aus. Die ständige Auseinandersetzung mit der Nordsee prägt den Textraum, wirkt identitätsstiftend: Das Selbstverständnis der Figuren basiert häufig auf ihrer Widerstandsfähigkeit angesichts der Natur. Die beschriebene Lebensweise ist stark vom Raum in seiner Spezifik abhängig und die Menschen sind immer auf mögliche ‘Übergriffe’ des Meeres vorbereitet: »Hie und da begann man schon vor Haustüren und Kellerfenstern die hölzernen Schotten einzulassen, zwischen deren doppelte Wände dann der Dünger eingestampft wurde, der schon seit Wochen auf allen Vorstrassen lagerte.« (Theodor Storm, Carsten Curator)

Aus einer solchen thematischen Kulisse kann im Laufe der Erzählung eine protagonistisch-physische Raumfunktion werden, so im Schimmelreiter: Eine Sturmflut lässt den Deich brechen und initiiert die finale Katastrophe. In diesem Moment wird die Nordsee personifiziert, sie greift als Handelnde in das Geschehen ein (Abb. 2).

Wenn der Raum in den bearbeiteten Texten in Aktion tritt, wird er als Gegenspieler des Menschen inszeniert. Das Nebeneinander von Land und Wasser provoziert eine Konfrontation von Mensch und Natur; der Küstenverlauf schreibt zwar vermeintlich den Grenzverlauf der Bereiche fest, doch diese Grenze ist hart umkämpft. Der Mensch ringt dem Meer Land ab, das Meer nimmt es sich zurück: Der von Hauke Haien eingedeichte Koog wird schlussendlich vom Wasser ‘zurückerobert’. Liliencron benennt die See als Kontrahenten, wenn er im Titel seiner Erzählung das Meer als direkten Gegenspieler auch be-nennt im wörtlichen Sinne (Der Blanke Hans). Auch auf Textebene wird das Meer anthropomorphisiert, wenn Cäcilie denkt: »Wie das Wasser über die Deiche spritzt, als könnt es die Zeit nicht erwarten vor Ungeduld, den neuen Besitz in sich aufzunehmen…«. Wenn der Raum als Akteur in Erscheinung tritt, ist auch die Funktion dieses Handlungsmotivs von Interesse. Gibt es hier Übereinstimmungen zwischen den untersuchten Texten, in denen der Raum eine protagonistisch-physische Qualität aufweist? Dazu zwei Gedanken: In Storms Carsten Curator und Liliencrons Der Blanke Hans ist eine Parallelführung von Natur- und persönlicher Katastrophe auffällig. Die Figur Carsten Curator in Storms Text muss Schritt für Schritt einsehen, dass er seinem verantwortungslosen Sohn Heinrich, alkoholkrank und bankrott, nicht mehr helfen kann. Dieser Erkenntnisprozess ist parallel zur herannahenden Sturmflut erzählt. Auf dem Höhepunkt des Unwetters fallen Vater-Sohn-Konflikt und Überflutung der Husumer Innenstadt zusammen. Analog zur doppelten Lesbarkeit der Sturmflut im Carsten Curator funktioniert die Sturmflut in Der Blanke Hans: Hier ist es das Thema der unerfüllten bzw. unerwiderten Liebe, deren zunehmende Spannung und Tragik in der aufkommenden Sturmflut gespiegelt sind. In zwei anderen Texten fordert der handelnde Raum den Protagonisten geradezu heraus: Greggert Meinstorff in Liliencrons gleichnamiger Novelle und Storms Hauke Haien stürzen sich am persönlich wahrgenommenen Tiefpunkt ihrer Existenz in die Fluten und kommen darin um. Beide Aktionen sind nicht geplant; erst in direkter Konfrontation mit der Erhabenheit der Natur lassen sie sich vom Innen und Aussen überwältigen. Die Protagonisten sehen sich beim Anblick der wütenden See quasi zum Handeln gezwungen - im Sinne eines potenzierten: space calls for action.

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Modellregion Nordfriesland http://www.literaturatlas.eu/2012/02/16/northern-frisa-a-literary-geographical-observation/ http://www.literaturatlas.eu/2012/02/16/northern-frisa-a-literary-geographical-observation/#comments Thu, 16 Feb 2012 14:46:49 +0000 literaturatlas http://latlas.ikgserve.ch/?p=778 Das Profil einer Modellregion - Nordfriesland literaturgeographisch betrachtet

Kathrin Winkler und Kim Seifert

Arbeitsweise

Wo spielt dieser Text? Bei der literaturgeographischen Beschäftigung mit den Texten, deren Handlung sich in der Region Nordfriesland/Dithmarschen abspielt, erhält der Leser auf diese Frage zumeist eher vage Antworten:

»Im hohen Norden«, »bei den Friesen«, »wo die Möwen über’m Wasser kreisen« und »die Nordsee an den Deichen rüttelt« spielt sich die Handlung ab.

Mit diesen Beschreibungen wird die Region als Ganze in ihrer Spezifik aufgerufen; als solche ist sie thematische Kulisse, nicht austauschbar, der fiktionale Raum ist in seiner Einzigartigkeit benannt.
Wenn die genaue Verortung auch auf den ersten Blick unklar erscheint, so steht eines zumindest schnell fest: dass sich die Handlung an der schleswig-holsteinischen Westküste abspielt.

Wer aber die Schauplätze genauer bezeichnen und auch verzeichnen möchte, wie unser Projekt es sich zur Aufgabe gemacht hat, stösst beim näheren Hinsehen auf Probleme, die allein mit Informationen aus dem Text nicht zu lösen sind. Es werden kaum Toponyme verwendet, die die Schauplätze zweifelsfrei verorten würden. Die Geschichte ereignet sich in »einer Stadt«, schreibt beispielsweise Theodor Storm, Schauplatz der Geschehnisse ist »die Marsch«, lesen wir bei Groth. Die Orte sind grösstenteils unbenannt und zwingen den literaturgeographisch Interessierten, andere Quellen als den Primärtext hinzuzuziehen.

Gerade bei einem gut erforschten Autor wie Theodor Storm lässt sich eine Fülle an Sekundärliteratur finden, die Aufschluss über die realen Vorbilder der fiktionalen Örtlichkeiten geben kann. Aus Storms Biographie lässt sich bereits erkennen, dass viele ihm vertraute Orte Eingang in sein Werk gefunden haben. Das in der Forschungsliteratur so bezeichnete »Urgrossvaterhaus« in Husum an der Ecke Schiffsbrücke/Twiete beschreibt Storm in vielen Novellen bis ins massstabsgetreue Einrichtungsdetail, so unter anderem in der Novelle »Carsten Curator« (1878). Aus Briefwechseln mit Verleger und Freunden wird deutlich, dass manchmal ganze Handlungsstränge auf realen Ereignissen beruhen: Die Söhne des Senators aus der gleichnamigen Novelle (1881) hat es ‘wirklich’ gegeben. Der Streit ereignete sich zwischen den Söhnen von Storms Ur-Urgrossvater, dem Bürgermeister Simon Woldsen in Husum. Wie in der Familienchronik der Woldsens nachzulesen ist, spielte sich der historische Streit in der Hohlen Gasse ab, die so als Vorlage für die Schauplätze der Novelle benannt werden kann.

Manchmal können derartige Zusatzinformationen zum Text aber auch irreführend sein: So hat sich die Geschichte des Protagonisten Hinrich Fehse in »Draussen im Heidedorf« (1873) während Storms Amtszeit als Landvogt zwar so zugetragen und der Text selbst legt nahe, dass die Handlung aller Wahrscheinlichkeit nach in Ostenfeld spielt. Doch die reale Vorlage ereignete sich in Rantrum, einem kleinen Ort südöstlich von Husum, der als Schauplatz ausscheidet, da das »Wilde Moor«, in dem sich der Protagonist das Leben nimmt, weiter östlich zwischen Schwabstedt und Winnert liegt.

Auch andere Autoren bleiben bei der Verortung ihrer Handlungsstränge uneindeutig. Liliencron nennt in keinem Text das Toponym »Pellworm«, sondern entscheidet sich stattdessen für die abfällige Bezeichnung »Schmeerhörn« - heute der Name eines Ortsteils von Pellworm. Erst wenn man Sekundärliteratur hinzuzieht oder anderen Hinweisen im Text (beispielsweise Strassennamen, Hinweise auf Nachbarinseln) folgt, lässt sich Pellworm als Handlungsort ausmachen.

So weit, so uneindeutig. Ab hier wird eine noch genauere Verortung der Schauplätze erst dann möglich, wenn Hintergrundinformationen ganz abseits von Autor und Text recherchiert werden. Für eine Bearbeitung der Pellworm-Novellen ist es unumgänglich zu wissen, dass ein Teil der Insel erst 1939 neu eingedeicht wurde; die Erzählungen spielen jedoch allesamt Ende des 19. Jahrhunderts. Erst vor dem Hintergrund dieser Veränderung der Ausdehnung der Insel ist es möglich zu beurteilen, von welchem Deich aus die Figuren aufs Meer blicken.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Schauplätze und projizierten Räume sind meist unbenannt oder verschleiert; sie sind dann nur indirekt referenzialisierbar, das heisst, nur unter Hinzuziehung von historischen und biographischen Kontextinformationen wird eine präzise oder zumindest zonale Verortung möglich.

Interpretationsansätze

Was also kann man auf den Karten sehen? Welches Bild ergibt sich nach der literaturgeographischen Analyse der bisher bearbeiteten Texte?
Hier gilt es zunächst einiges festzuhalten: Auffällig ist, dass die meisten Schauplätze und projizierten Räume innerhalb eines Textes importiert sind und sehr eng beieinander liegen.

Die Handlung spielt sich meist in wenigen Häusern oder ein bis zwei Dörfern ab, wobei sich die einzelnen Orte kaum voneinander unterscheiden.

Es wird also textintern selten eine qualitative Änderung der Raumkonstruktion über einen Schauplatzwechsel vorgenommen. Der Handlungsraum eines Textes konzentriert sich auf eine bestimmte, eng gefasste Umgebung, die Raumattribute des Gesamttextes sind zumeist mit denen der Einzelschauplätze deckungsgleich. Zudem sind die Wegstrecken, die zwischen den einzelnen Schauplätzen zurückgelegt werden, selten als handlungsrelevant inszeniert. Wenn überhaupt erwähnt wird, wie die Figuren von einem Ort zum anderen gelangen, so hat der Weg zumeist keinen Schauplatzcharakter.

Ausserdem ist zu bemerken, dass die Texte eines Autors oftmals in der selben Gegend angesiedelt sind. Fast alle Stormnovellen, die innerhalb der Modellregion zu verorten sind, spielen in Husum (siehe Abb. 1 links), Groth bleibt mit seinen Figuren in Dithmarschen, Jensen bewegt sich nicht aus der Wiedinger Harde und Liliencron schreibt entweder über Pellworm oder Kellinghusen - niemals aber im gleichen Text (Abb. 1 rechts). Offenbar bildet jeder Autor einen kleinen Ausschnitt der Gesamtregion ab, stellt diesen dann in den Texten konzentriert dar und arbeitet die besonderen Eigenheiten der Gegend heraus. Es verwundert nicht, dass die meisten Autoren augenscheinlich diejenige Gegend gewählt haben, die ihnen aus persönlicher Anschauung bestens bekannt ist: Storm kommt aus Husum, Groth aus Heide und Liliencron war einige Zeit Hardesvogt auf Pellworm. So weit so gut. Unterhalb dieser für den jeweiligen Autor geltenden ‘Lieblingsgegend’ aber wird eine Schauplatzbestimmung schwierig. Ein »Haus des reichsten Bauern am Ort« wird sich wohl so ziemlich überall finden lassen und der schöne Hof mit den »weissen Fensterläden« kann auch nicht als ideale Wegbeschreibung gelten. Auf der Schauplatzebene bleibt also weiterhin die Frage nach den Gründen für die fehlende Benennung.

»Keinen Namen hinschreiben - sie wecken Vorurteile.«

Fast wirkt es so, als hätten die Autoren der Modellregion diesen Ausspruch Alfred Kerrs im Kopf gehabt, als sie ihre Texte annähernd toponymfrei verfassten.

Die Tatsache, dass die meisten Schauplätze und Projizierten Räume unbenannt bleiben, kann man eigentlich nur so interpretieren, dass zwischen den einzelnen Orten ein hohes Mass an Austauschbarkeit vorliegt. Die Schauplätze und projizierten Räume tragen daher auch selten das Attribut thematisch kulissenhaft - für den Handlungsraum des Textes ist dies viel häufiger der Fall, da auf der Ebene des gesamten Textes durchaus die Modellregion in ihrer Spezifik aufgerufen wird und diese keineswegs austauschbar ist. Somit werden die Texte erst innerhalb dieser recht groben Verortung, wie wir herausgefunden haben, topographisch unspezifisch; einer regionalen Spezifik steht eine binnenregionale Unspezifik gegenüber.

Häufig wird auch nur ein Teilaspekt der Modellregion aufgerufen, wenn Storm in seinen Husum-Texten die norddeutsche Kleinstadt an der Küste thematisiert oder Groth den Gegensatz von Geest und Marsch in Dithmarschen literarisch fruchtbar macht. Groths Texte lassen keinen Zweifel an ihrer groben geographischen Verortung: Erzähler und Figuren sprechen Dithmarscher Platt. Dadurch ist die Modellregion als topographischer Hintergrund aufgerufen. Vor diesem Hintergrund nimmt Groth eine Unterscheidung in die beiden Landschaftsformen Marsch und Geest vor. In welchem Dorf die Handlung spielt ist offensichtlich irrelevant, solange man weiss, ob es sich um ein Geest- oder Marschdorf handelt. Anders gesagt: Die Schauplätze und projizierten Räume sind in ihrer räumlichen Textfunktion austauschbar, solange sie sich in die grössere topographische Einheit Dithmarschen einordnen lassen.

Je mehr unterschiedliche Texte in den Blick genommen werden, desto deutlicher tritt hervor, dass sich die Modellregion in einzelne Teilgebiete auffächert. Die Einheit Nordfriesland/Dithmarschen lässt sich so in bestimmte Subregionen aufteilen, die deutlich voneinander unterschiedene geographische Besonderheiten aufweisen: Geest, Marsch, Heidelandschaft, Halligen, etc. Diese Einheiten werden in ihrer Qualität als Teil der Modellregion und als Subregion mit ihren jeweiligen spezifischen Eigenschaften aufgerufen.

Perspektiven

In anderen Worten: Die Texte lassen keinen Zweifel daran, dass die Region als thematische Kulisse entscheidender ist als binnenregionale Exaktheit. Die beschriebenen Ergebnisse beziehen sich allerdings bisher auf Autoren, die aus der Modellregion stammen oder dort gelebt haben, ihre Schauplätze also aus persönlicher Anschauung kennen. Für die Zukunft wäre also interessant zu erforschen, wie andere Autoren die Region beschreiben. Schon bei Hans Christian Andersens Text »Die zwei Baronessen« hat sich gezeigt, dass für diesen die oben beschriebenen Erkenntnisse nicht zutreffen: Hier begegnet der Leser einer Flut von Toponymen (Abb. 4:3). Verhält es sich mit anderen Texten zu- oder durchgereister Autoren ähnlich? In einem nächsten Schritt wäre es zudem vielversprechend, die Unterschiede zwischen den festgestellten Subregionen näher zu analysieren. Wie unterscheiden sich die Handlungsräume in Inseltexten von Erzählungen, die im Binnenland spielen? Fordert eine bestimmte Subregion eine bestimmte Raumdarstellung?

Abb. 2: Einzeltextkarte: Hans Christian Andersen: »Die zwei Baronessen«

Abb. 2: Einzeltextkarte: Hans Christian Andersen: »Die zwei Baronessen«

Hierzu würde es sich anbieten, Texte aus bestimmten Subregionen einander gegenüber zu stellen; während sich also die Textauswahl in der ersten Projektphase zunächst an Autoren orientiert hat, könnte man in einem zweiten Schritt den Fokus auf die einzelnen Teilgebiete richten. Daran anschliessend wird zu fragen sein, ob es Regionen gibt, über die niemand (oder niemand mehr) schreibt. Erst wenn eine erheblich grössere Anzahl bearbeiteter Texte vorliegt, lassen sich hierzu fundierte Vermutungen anstellen. Bisher wurden Texte von Theodor Storm und Zeitgenossen untersucht. Eine diachrone Untersuchung steht bisher noch aus und könnte Aufschluss geben über die Frage, ob sich die Bindung an Subregionen über die Zeit verschiebt. Bestätigt sich die bisherige Vermutung des ‘am Ort-Bleibens’, die Festlegung eines Autors auf eine bestimmte Subregion? Andersherum gefragt: Gewinnt oder verliert eine spezifische Subregion zu einem Zeitpunkt an literarischer Aktualität?

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Modellstudie Engadin http://www.literaturatlas.eu/2012/02/02/engiadine-as-literary-landscape/ http://www.literaturatlas.eu/2012/02/02/engiadine-as-literary-landscape/#comments Thu, 02 Feb 2012 14:22:11 +0000 literaturatlas http://latlas.ikgserve.ch/?p=394 'Das Engadin als literarisierte Landschaft. Literaturgeographische Untersuchungen zum Verhältnis von Text und Raum'

von Andreas Bäumler (Masterarbeit, Universität Basel, 2011)

Die vollständige Arbeit ist am Ende des Artikels als Download verfügbar.

Die Studie basiert in Teilen auf Konzepten aus Barbara Piattis 'Die Geographie der Literatur' (2008) und Kategorien aus dem 'Literarischen Atlas Europas'. In diesem Rahmen entfaltet Andreas Bäumler eine Reihe äusserst kreativer Deutungen, von denen einige als neuartige, wichtige Impulse im Feld der Literaturgeographie bewertet werden müssen.

Auszüge aus dem Gutachten von Barbara Piatti:

Im Zentrum der Untersuchung stehen vier Prosa-Texte, die u.a. im Engadin spielen. Erklärtes Ziel ist die 'Gewinnung von Erkenntnissen bezüglich der Beziehung zwischen textuellem und empirischen Raum'. Dies wird in einem gelungenen Wechselspiel von Visualisierungen (Karten und Schemata) und Kommentaren realisiert.

Der Autor entscheidet sich bewusst für vier Texte, die eine in jeder Hinsicht heterogene Zusammenstellung ergeben:

'Mit Cla Biert ist ein rätoromanisch und deutsch schreibender Engadiner Lokalautor, mit Hans Boesch ein Schweizer, mit Tim Krohn ein in der Schweiz lebender deutscher und mit Ulrich Becher ein ins Exil geflüchteter deutscher Autor vertreten. Es sind also Bewohner und Besucher des Engadins repräsentiert, bei denen sowohl der lebensweltliche Hintergrund wie der Rezeptionsradius ihrer Texte sehr verschieden ist.'

Was der Autor in vier eingehenden Lektüren auf fast 60 Seiten ausbreitet, ist von hoher wissenschaftlicher Qualität. Es gelingt ihm, ganz nah an den Texten zu bleiben und gleichzeitig literaturkartographische Instrumente einzusetzen, die auf Reduktion, ja Abstraktion von Inhalt abzielen - ein schwieriger Balanceakt, dessen Bewältigung nicht selbstverständlich ist, hier aber zu äusserst produktiven Denkprozessen führt.

Im Falle von Ulrich Bechers 'Murmeljagd' (1969) ist es die vom Autor als 'Triggering' bezeichnete Funktion von Schauplätzen: Einzelheiten dieser Orte, an denen sich die handelnde Figur gerade aufhält, lösen Erinnerungswellen aus. Über gewisse geographische/topographische Ähnlichkeiten wird die Hauptfigur, der schwer kriegstraumatisierte Trebla, zurück in die Vergangenheit katapultiert, in einen 'projizierten Raum' (gemeint ist mit diesem Begriff: eine Projektion der Figurenpsyche). Das Val Roseg 'triggert' das Val Piave, in dem Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges stattgefunden haben. Der Autor untermauert diese Beobachtung mit Überblendungen von zwei Kartenausschnitten (Schauplatz + projizierter Ort), die sich als überraschend deckungsgleich erweisen.

'Durch die Kartierung der besprochenen Szene wird ersichtlich, dass gewisse landschaftliche Elemente zur Einführung der Projektion notwendig sind und dass der Moment des Triggerings direkt von geographischen Bedingungen abhängt. Die projizierte Ebene kann topographisch, wie in der oben erwähnten Val Roseg-Szene, in den Schauplatz 'eingefügt' werden.'

Noch schlagender erscheinen die Parallelen beim nächsten 'Triggering': Hier fallen das Ufer des St. Moritzer Sees, dem der Protagonist im Auto entlang fährt, in eins mit den Buchten des Schwarzen Meeres, entlang der Küste Rumäniens. Beim Durchbrechen einer Nebelwand auf der Höhe von Silvaplana 'findet das Triggering statt: Die Fahrt wird zum Flug, das Fahrzeug zum Flugzeug, der Fahrer zum Piloten, das Horizontale zum Vertikalen. Der projizierte Raum befindet sich hoch in der Luft, 'tief, tief unten' das Schwarze Meer und die rumänischen Küstenstädte Constanta und Sulina.'. Nochmals gehäuft erscheint die Funktion des Triggerings in Karte 2.7 - durch Licht, Geräusche, Gebäude, Klänge werden hier in rascher Folge Projektionen ausgelöst (siehe Abb. 1). Der Autor kommt zum bildhaft einleuchtenden Schluss, dass sich 'die Ebene der Handlungszone statisch ist, während sich die Projektionsebene sprunghaft bewegt'. Handlungskonstitutiv ist damit neben der Bewegung im Raum, auch die Bewegung von Raum.

Abb. 2: Textchronologischer Aufbau des Handlungsraums von Cla Bierts Die Wende (1962); Karte: - Andreas Bäumler, Basel

Für Hans Boeschs 'Der Kreis' (1998) zeigt der Verfasser mit Hilfe zweier Karten und einem erläuternden Kommentar, wie die Raumkonstitutionen in diesem Roman funktioniert: Es handelt sich um den klassischen Fall einer Rahmen- und Binnenerzählstruktur, im Bergdorf Bever findet die Rahmenhandlung statt (in einer Gaststube werden Geschichten erzählt), die Binnenerzählungen bzw. deren Schauplätze sind dagegen global verstreut. In einer Art Kamerafahrt, Schnee und Wind folgend, 'umkreist der Text den eurasischen Erdteil, um schlussendlich wieder in Bever zu landen.' (Abb. 2) Ein 'Schwall von topographischen Markern' ist auf der Karte zu sehen. Viele dieser Marker gehören gar nicht unmittelbar zum Figurenraum, sondern liegen ausserhalb. Sie tragen aber in ihrer Gesamtheit dazu bei, 'den Mikroschauplatz der Gaststube in Bever als Zentrum der Textwelt zu inszenieren.' - später verwendet der Verfasser auch die treffende Umschreibung 'Nabel der Welt'. Diese These wird von einer zweiten Karte gestützt, die den allmählichen Aufbau des Handlungsraums durch einen Farbverlauf visualisiert. Am Anfang werden die Toponyme, das zeigt die Karte deutlich, in schneller Folge eingeführt, rasch spannt sich der erzählte Raum zwischen Bergün Maloja und Poschiavo auf. Der Verfasser leitet daraus eine Art 'Zwiebelschalenmodell' ab, er teilt die Fülle der Toponyme und Referenzen auf den Georaum hin in drei Raumebenen ein: Erstens der Mikroschauplatz Bever als Ort der Rahmenhandlung, zweitens die projizierten Erinnerungsräume (Bergün, Poschiavo, Venedig) und drittens der alles umschliessende, durch topographische Marker abgesteckte Handlungsraum (Welt). 'Das beschauliche, unscheinbare Bergdorf Bever fungiert als Nullpunkt der Nord-Süd-Achse und zugleich als Mittel- und Ausgangspunkt vielschichtiger Kreisbewegungen, durch die der Leser die Welt erfährt'.

Für alle vier Textlektüren sind mehrere, teils ganz neuartige Karten entworfen worden. Sie zeugen von ebenso viel konzeptuellem Können wie graphischem Gespür. Für einige Probleme, die in literaturgeographischen Projekten immer wieder als Desiderat benannt werden, hat der Verfasser sogar erste Lösungsvorschläge zur Hand: Etwas, was in der Literaturgeographie, wenn überhaupt, erst in Form von Kartenserien (oder dann als Animation bzw. Film) darstellbar ist - nämlich der (text)chronologische Aufbau eines Handlungsraumes, ist vom Autor in Form eines Farbverlaufs realisiert worden. Im Falle von Cla Bierts 'Wende' erscheinen jene Schauplätze gelb, die am Anfang des Romans eingeführt werden, rot jene, die eher gegen Ende eine Rolle spielen (Abb. 3). Das Auge des Lesers, der Leserin ist so mühelos in der Lage, der allmählichen räumlichen Konstituierung zu folgen, ohne dass es einer aufwendigen Animation/einer filmischen Technik bedarf.

Abb. 3: Gesamthandlungsraum von Hans Boeschs Der Kreis (1998); Karte: - Andreas Bäumler, Basel

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Erinnerungen, Träume, projizierte Orte http://www.literaturatlas.eu/2012/01/05/deutsch-erster-post-lekturen/ http://www.literaturatlas.eu/2012/01/05/deutsch-erster-post-lekturen/#comments Thu, 05 Jan 2012 16:44:30 +0000 barbara piatti http://latlas.ikgserve.ch/?p=101 Projizierte Orte - Erinnerungen, Träume, Sehnsüchte am Beispiel Prag

von Barbara Piatti

Literatur weist einen besonderen Reichtum an projizierten Orten auf. Definiert sind diese im 'literarischen Atlas Europas' als Räume, die von den Figuren nicht unmittelbar 'betreten' werden, sondern im Modus von Träumen, Erinnerungen, Sehnsüchten in effektiven Handlungsräume eingeblendet. Man kann mit Gewissheit sagen, dass sie eine der wichtigsten literarischen Raumkategorien darstellen, denn sie sind als ein genuin literarisches Konzept aufzufassen - keine andere Kunst (vom Film einmal abgesehen) verfügt über ein solches Spektrum an Möglichkeiten, projizierte Räume bzw. Übergänge von Schauplätzen zu projizieren Räumen oder umgekehrt zu gestalten. In Flauberts Madame Bovary träumt die Titelheldin in der normannischen Provinz von Paris. Auch Max Frischs Montauk ist ein gutes Beispiel: Während die elegische Haupthandlung in New York und auf Long Island angesiedelt ist, besteht das Erzählte über weite Strecken aus Rückblenden, Erinnerungsfragmenten des Ich-Erzählers, durch die Schweizer Gegenden und Orte wie das Tessin und Zürich gewissermassen in die Haupthandlung 'hereingeholt' werden.

Ein schönes Beispiel für unsere tschechische Modellregion innerhalb des 'literarischen Atlas Europas' ist Arthur Philipps Roman Prague (2003) - keine einzige Handlungssequenz spielt im titelgebenden Prag, alle Figuren halten sich im Budapest der Nach-Wende-Zeit auf, doch ihre Gedanken sind ganz auf Prag fixiert.

Alle fünf Protagonisten, junge, exzentrische College-Studenten, scheinen die Meinung zu teilen, dass erst in Prag - dem Ziel all ihrer Sehnsüchte - Erfüllung sie erwarte. Eine solche paratextuelle eingefädelte Konstruktion hat natürlich Einfluss auf die Lektüre des Romans. Die magische Städtevokabel 'Prag' markiert den Horizont nicht nur für die Figuren, sondern (seit der erste Blick den Umschlag des Buches gestreift hat) auch für die Lesenden - und so ist die konsequente Erwartungshaltung während des gesamten Leseaktes, dass die Protagonisten, oder zumindest einer davon, nach Prag aufbrechen werden: 'Dort wird das wahre Leben beginnen, am Ende dieser Fahrt'[1].

Es ist der Schluss des Romans, der die Sehnsucht erfüllt: Eine der Hauptfiguren, John, schafft den Aufbruch, aber er landet keineswegs in einem realen Prag, das der architektonisch-atmosphärischen Konkretheit Budapest, wie sie einem im Roman begegnet, in irgendeiner Weise entsprechen würde. Vielmehr wird zunächst in einmaliger, traumsequenzartiger Weise die letzte Strecke geschildert, vor dem Erreichen des ersehnten neuen Ziels: Der Zug fährt immer im Kreis. Nachdem er in immer rascherer, gerader Linie von einer Welt zur anderen gefahren ist, fährt er plötzlich langsamer, fährt in unmerklich kleiner werdenden Kreisen spiralförmig immer um seinen Zielort herum, und John stellt sich vor, er sei dazu verurteilt, immer und ewig die unendlichen Aussenbezirke zu durchqueren, eine graue Zwischenwelt des Beinahe-Dort-Seins[2].

Der Status der Projektion bleibt bis zum Schluss erhalten, ja wird paradoxerweise sogar verstärkt, je mehr die geographische Distanz schrumpft. So wird das Ende des Romans bewusst in der Schwebe gehalten, die Ankunft Johns gar nicht erst geschildert. Die letzten Zeilen lassen zwischen ihm und der Goldenen Stadt eine fortwährende Distanz erahnen, ein Nie-Ankommen-Können, wie es sich für Traum- und Sehnsuchtsorte gehört.

Und dies deckt sich wiederum mit dem 'Mythos Prag', wie ihn Claudio Magris so eindringlich beschreibt: 'Der Zauber Prags als etwas Undefinierbares und nur Andeutbares ist der Zauber einer Sehnsucht, die sich dem Leben zuzuwenden glaubt, - einem Leben, das immer als vergangen und verloren erscheint und nie in der Gegenwart erfasst und erlebt wird [...].'[3] Und noch deutlicher: 'Der Prag-Mythos stellt eine Art Sehnsucht der Sehnsucht dar, das Nachtrauern nach einem blossen Papiergebilde, das die Geschichte bereits zerrissen hat und das man in Wirklichkeit nie besessen hat.'[4]

Bruce Chatwins Utz und Vichy
Abb. 2: Projizierte Räume (violett) und Schauplätze (rot) des Textes: Bruce Chatwin: »Utz«

Abb. 2: Projizierte Räume (violett) und Schauplätze (rot) des Textes: Bruce Chatwin: »Utz«

Schon auf der Ebene eines einzelnen Textes kann das Abrufen einer 'Geographie der projizierten Orte' sehr erhellend sein. Bruce Chatwins Roman 'Utz' (1988), in dessen Zentrum der gleichnamige, verschrobene Porzellansammler steht, der von einem amerikanischen Experten besucht wird (noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs), spielt auf der Schauplatzebene fast ausschliesslich in Prag. Nimmt man aber die - zahlreichen - projizierten Orte hinzu, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Zwar findet in Prag die Haupthandlung statt, aber Utz' Geschichte(n) und die Geschichte des Ich-Erzählers knüpfen quer durch Europa und sogar global ein dichtes Netzwerk von Orten, die innerfiktional nur über die Imagination zu erreichen sind (Abb. 1). Zu den ausführlich elaborierten projizierten Orten gehört z.B. der französische Kurort Vichy. Diesen imaginiert Utz zunächst und knüpft allerlei Vorstellungen daran: 'Von russischen Romanen oder der Liebesgeschichte seiner Eltern in Marienbad her, hatte Utz die Vorstellung, dass eine Kurstadt ein Ort sei, an dem unweigerlich das Unerwartete eintreffe.'[5] In der Folge reist er tatsächlich zu einem Kuraufenthalt nach Vichy, das somit seinen Status ändert und zu einem Schauplatz wird (auch das ein interessantes und noch kaum untersuchtes Thema - die Funktionswechsel zwischen räumlichen Kategorien innerhalb einer Fiktion).


[1] Arthur Philipps: Prag. Roman. Aus dem Amerikanischen von Sigrid Ruschmeier. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2003, S. 529 (die Originalausgabe ist unter dem Titel Prague 2002 bei Random House, New York erschienen).
[2] Ebd., S. 529.
[3] Magris, Claudio: 'Prag als Oxymoron'. In: Neohelicon, Vol. 7, Nr. 2 (1979), S. 11-65, hier: S. 12.
[4] Ebd., S. 14.
[5] Bruce Chatwin: Utz (1988). Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2002, S. 80.
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Prag im Werk von Libuse Monikova http://www.literaturatlas.eu/2012/01/01/prag-im-werk-von-libuse-monikova/ http://www.literaturatlas.eu/2012/01/01/prag-im-werk-von-libuse-monikova/#comments Sun, 01 Jan 2012 13:05:38 +0000 literaturatlas http://latlas.ikgserve.ch/?p=1899 Prag im Werk von Libuse Monikova

von Eva Markvartová

Das Zentrum aller Texte der tschechischen, deutschschreibenden Autorin Libuse Monikova (1945-1998) ist die Hauptstadt Prag: 'Alles, was ich schreibe, was mich bewegt, kommt aus dieser Stadt, im Guten und im Bösen. Ich bin für jede andere hoffnungslos verloren.'[1] Dazu bekennt sie sich auch in ihrem Essay »Prag der neunziger Jahre«: 'In meinen Büchern kommt sie immer wieder vor, auch wenn ich über so entlegene Landschaften wie Sibirien, Japan oder Grönland schreibe. Die Stadt ist magisch und gleichzeitig sehr konkret, von einer fast schmerzhaften Schönheit und mit einer Jugend, die ihre Freiheit probt - ohne Vorbilder, ernst und realistisch.'[2]

So spielen fast alle ihre Romane in Prag, die Helden wohnen entweder innerhalb der Stadt (»Eine Schädigung«, »Der Taumel«), sind auf der Suche nach ihr (Prantl und Karla in »Treibeis«) oder kehren immer wieder zu ihr zurück (Leonora Marty in »Verklärte Nacht«, die Literaturdozentin Francine Pallas aus der »Pavane«). [...]

Prag funktioniert bei dieser Autorin einerseits als Abbild von Wirklichkeit und andererseits als Stadt der Träume, des Imaginären (so vor allem in ihren Werken »Pavane für eine verstorbene Infantin« oder in »Verklärte Nacht«, in denen die Visionen von Realsituationen kaum unterbrochen werden). Dem Prag des Imaginären, dem Prag der Erinnerungen und Sagen werden verschiedene Charakteristika zugewiesen, wie die des Glanzes (z. B. wenn Libussa den Ruhm der Stadt prophezeit).

Libuse Monikova: »Pavane für eine verstorbene Infantin« (1983)

Libuse Monikova: »Pavane für eine verstorbene Infantin« (1983)

Prag in »Eine Schädigung« (1981)

Das Bild der Stadt entwickelt in diesem Buch eine aussergewöhnliche Dynamik, die den Einzelnen anfangs stark unterdrückt. Das erfährt der Leser, wenn er die Protagonistin des Romans immer wieder dabei beobachten kann, wie sie Spaziergänge durch Sperrgebiete und verlassene Regierungsviertel macht, oder mit der Strassenbahn durch die graue Stadt fährt, auf deren lebendiges Treiben hinausblickend. Die Studentin bewegt sich nicht in ausgefahrenen Gleisen, was sich in ihrem ständigen Verlassen der Strassenbahn während der Fahrt zeigt (sei es während der Nachtschicht, wenn sie als Fahrerin mit ihrer Strassenbahn um die Wette läuft, oder während des Klassenabends in der alten Dreiundzwanzig, wenn sie das Geschwätz ihrer ehemaligen Mitschülerinnen nicht mehr aushält). Das Verlassen der Strassenbahn während einer der Nachtschichten erweist sich als verhängnisvoll: Jana wird in einem verlassenen Regierungsviertel von einem Polizisten vergewaltigt und niedergeschlagen. Unmittelbar darauf tötet sie den Mann, schleift seine Leiche zum Fluss und stösst sie ins Wasser. Sie findet Aufnahme in einem Hausboot, dessen Bewohner Mara und Peter sich um sie kümmern.

Obwohl Jana sich ausschliesslich auf ihre Wahrnehmungen konzentriert, spiegelt sich in der Stadtdarstellung der interpretierenden, allwissenden Erzählerin offenkundig eine Sinnkrise der ganzen sozialistischen Kultur:

Die vorteilhafte Lage des Berges erleichtert der Verwaltung die Kontrolle der Stadt, die Geräte auf den Türmen sind tagsüber in Betrieb und manche arbeiten automatisch auch nachts. Unter den Dächern wird registriert, verglichen, die Archive füllen sich. Wozu es gut sein wird, weiss niemand.[3]

Um der ständigen Beobachtung zu entgehen, bewegt sich die Protagonistin lieber an eher 'unauffindbaren Plätzen inmitten der Stadt.' (S. 103), wo sie sich geborgen fühlt, die Ruhe und stillen Zauber ausstrahlen. Manchmal verändert sich die graue Strasse durch zufällige Düfte, etwa durch ein plötzliches Gefühl der Sättigung, nachdem sie einen Kuchen gegessen hat etc. In solchen Augenblicken empfindet die Protagonistin keine Bedrohung mehr. Prag ist für Jana wichtig, was sie immer wieder betont. Nachdem ihr die Bildhauerin Mara vorgeschlagen hat, in eine Künstlerkolonie ins Grenzgebiet abzureisen, kann sich Jana bis zum letzten Moment nicht entscheiden, ob sie mitfahren wird?

Libuse Monikova: »Eine Schädigung« (1981)

Libuse Monikova: »Eine Schädigung« (1981)

Prag in »Treibeis« (1992)

Der Prager Jan Prantl unterrichtet seit Jahren Jugendliche in Grönland. Als er zu einem internationalen Kongress nach Österreich kommt, lernt er durch Zufall eine junge Tschechin kennen, Emigrantin wie er.

Auch in diesem Buch enthüllt Monikova dem Leser mittels der Sagen und erzählten Geschichten allmählich die tschechische Vergangenheit. Der ganze Romanraum ist auf diese Weise von Geschichte durchwoben. Dies wird unterstützt durch das Prinzip der wiederkehrenden Namen. Jede Sage verweist auf immer dieselben konkreten Orte. So wird z. B. im Zusammenhang mit der Karlsbrücke die Geschichte von Kralupy erzählt: Beim Bau der Karlsbrücke wurden Eier benutzt, damit der Mörtel besser hielt:

Es hat sich offensichtlich bewahrt. Da Prag allein aber nicht genügend Eier hatte, wurden alle Städte des Königsreichs aufgefordert, eine entsprechende Anzahl Schock Eier für den Bau zu liefern. Und eine Stadt war besonders eifrig…' 'Ich weiss', sagt Karla. 'Kralupy. Als ihre Fuhre kam, und die Maurer anfingen, die Eier in den Mörtel zu schlagen, hat das Gelächter die provisorischen Pfeiler arg gefährdet: die Eier aus Kralupy waren alle hartgekocht![4]

An Karlas Verhältnis zu Prag ist zu sehen, was diese Stadt für sie bedeutet, wie wichtig sie für sie ist. Es ist sogar eines der Kriterien, nach dem die Beziehung zu Prantl beurteilt wird. Mit Prantl kann sie nie zu gegenseitigem Verständnis gelangen:

Du kennst andere Kinos, du kennst ein anderes Prag! Wir können uns nicht einmal über die Stadt verständigen! Was haben wir überhaupt gemeinsam?' Er sieht sie an. Er weiss, dass bei ihr der Schmerz und die Trauer um das Land, das sie verlassen hat, grösser ist, frischer als bei ihm. Sie ist erst seit kurzem fort, kann sich nicht umgewöhnen. Er hat seine Erinnerungen seit zwanzig Jahren auf Eis gelegt, in das tiefe Kontinentaleis von Grönland. Er kann nicht widersprechen, er kann sie auch nicht trösten.[5]

Mit Prag ist bei Monikova immer das Heimatgefühl verbunden. Die Beschreibung dieser Stadt in »Treibeis« ist einzigartig, weil dort Prag aus der Perspektive zweier verschiedener Menschen geschildert wird. Die Hauptprotagonisten erzählen von Prag, dabei lernen sie einander kennen. Diese Szenen sind deshalb meistens als Dialoge gestaltet, das Gespräch ist die erzählerische Grundform dieses Romans.

Libuse Monikova: »Treibeis« (1992)

Libuse Monikova: »Treibeis« (1992)

Prag in »Verklärte Nacht« (1996)

Die Stadt in »Verklärte Nacht« wird dagegen aus der Perspektive eines Einzelnen geschildert. Die Stadtwahrnehmung bleibt dort an eine Figur gebunden, die ihre Gedanken wiedergibt.

Nach zwanzig Jahren kehrt Leonora Marty in die Stadt ihrer Kindheit zurück. Sie arbeitete zuerst als Literaturdozentin an mehreren deutschen Universitäten, gründete dann eine Tanzgruppe und zog mit ihr durch die Welt, bis sie am Ende zurück nach Prag kommt:

Was die Landsleute nicht wissen, dass die gefeierte Landsmännin nicht mit ihrem Ensemble weggefahren ist, sondern noch eine Woche in ihrer angemieteten Wohnung in Prag 6 verbringen wird, privat. Ich will die Stadt für mich allein haben.[6]

In den ersten Tagen wohnt sie im Hotel. Da sie tschechisch spricht, will man sie im Hinterzimmer unterbringen. Nach einem Wutausbruch bekommt sie dann doch das beste Zimmer mit Blick auf die ganze Stadt. Hätte sie sich gegen die Diffamierung nicht gewehrt, wäre das bessere Zimmer an den ausländischen Touristen gegangen. Das Leben in dieser Stadt kann also sowohl das Gefühl der Zugehörigkeit und Liebe, als auch das der Enttäuschung und Absurdität hervorrufen.

Karla sucht nach der Stadt, die sie vor Jahren verlassen hat, doch nach ’89 findet sie diese nicht mehr wieder. Der Raum, in dem sie sich unter anderem als Spaziergängerin bewegt, wird zum Objekt der Beschreibung. Die Namen wechseln, viele Strassen wurden umbenannt: 'Früher habe ich über Namen nicht nachgedacht, sie waren selbstverständlich, wenn auch nicht immer klar; doch die Unklarheit war vertraut. Jetzt bin ich mir keines Wortes sicher.'[7]

Die Wirkung der Stadt auf sie reicht von Bewunderung und Liebe bis zum Entsetzen:

Ich überlasse mich dem unwirklichen Gefühl, in dieser Stadt zu sein. Es gibt Orte, die mich sofort ansprechen: italienische Städte, New York. In Prag kommt dazu das Gefühl einer besonderen Auszeichnung. Als hätte ich in einem früheren Leben etwas Wichtiges oder Grosses getan, dass ich in dieser Stadt geboren wurde und in ihr leben durfte. Dabei ist die Luft kaum zu atmen und die Siedlungen am Horizont von solcher Brutalität, als wären die verantwortlichen Städteplaner alle Kretins oder Schwerverbrecher. Die Neubauten in Ostberlin, in den Vororten von Salerno, von Paris sind keine Spur besser, um diese Städte habe ich aber nicht solche Angst.[8]

Das Gesicht der Stadt wandelt sich in den Werken von Libuse Monikova. Nicht nur von einem Buch zum anderen, sondern auch innerhalb eines Werkes. Mit dem wachsenden Zeitabstand wird Prag anders beschrieben. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Prag-Erfahrungen beschreibt die Autorin die gesellschaftlichen Veränderungen:

In der letzten Zeit sind die Geschäfte voll westlicher Waren, sogar von Milchprodukten, die alle nach Bindemitteln schmecken und dabei teurer sind als die einheimischen; [...] Was machen die Rentner bei den galoppierenden Preisen? Die Kriminalität müsste unter den Sechzigjährigen steigen; statt dessen sind es die vielen »Unternehmer« unter dreissig, ehemalige Kellner, die sich als Schläger, Spitzel und Wechsler bei der Polizei angedient hatten und jetzt aufgrund ihrer früheren Rührigkeit die Kneipen aufgekauft haben. In einem verballhornten Englisch und Deutsch preisen sie ihre »altböhmische« Küche an, Knödel aus Instantbeuteln. Tschechisch sprechende Gäste werden kaum hereinlassen, oft erst nach dickem Schmiergeld, und die Bedienung bleibt auch dann rüde und langsam.[9]

In ein paar Sätzen wird ein Bild der Gesellschaft in den neunziger Jahren entworfen

Sie beschreibt die Überfremdung der Stadt durch charakterlose, aber erfolgreichere Ausländer:

Die teuersten Plätze hat sich die russische Mafia gesichert und verkauft ihre Matrjoschki, die schwangeren Puppen, die neuerdings Politikervisagen gebären, ihre schweren Uhren und Militärmützen an Westtouristen, die keine Ahnung haben und sich nachträglich vor der roten Gefahr gruseln möchten.[10]

Die Ich-Erzählerin berichtet, was ihr widerfahren ist. Dabei werden auch Erinnerungen wach und die Gegenwart und Vergangenheit werden dadurch spontan verbunden:

Eine Klondike-Mentalität greift um sich, die Passagen im Zentrum, wo früher Kinos waren, sind voll von eingeschlepptem Plunder, Massenware aus Hongkong und Taiwan, künstlich zerfetzte Hosen mit Flicken, Nieten, Löchern, Jacken und Trikots mit schrillen Aufschriften, dazu Musik, voll aufgedreht, an jedem Stand eine andere. Plastikflut.[11]

In diesem Beispiel zeigt Leonora die Grossstadt als chaotisches Durcheinander. Die Unüberschaubarkeit, die Flut der Eindrücke, die schrille Hektik der Grossstadt spiegelt sich auf syntaktischer Ebene im asyndetischen Satzbau wider. Die sinnlichen Eindrücke der Protagonistin finden ungefiltert Eingang in die Sprache. Diese Erzählweise, die Monikova in vielen ihrer Werke anwendet, lässt an filmische Darstellungsmittel denken. Die Unverständlichkeit der Umwelt, das Fehlen von Zusammenhang, kulminiert in einzelnen Begriffen, die die Protagonisin in der Zeitung liest: 'Ich lege die Zeitungen zusammen, fange Wörter auf: Konversion, Dislozierung, Harmonogramm, devastiert.'[12]

Die Erzählerin irrt ziellos durch die Strassen; die ‘leere Zeit’ kongruiert mit der Leere ihres Inneren. Diese Leere füllt sie mit den Erlebnissen aus, die ihr der Tanz und die Schönheit der Stadt bieten.. Doch Prag verfügt auch bei Monikova über eine magische Seite, sie ist zugleich auch Raum der unbegrenzten Möglichkeiten und Zufälle: Leonora trifft vor dem Seiteneingang des Theaters einen Deutschen – Thomas Asperger, in den sie sich später verliebt.

Libuse Monikova: »Verklärte Nacht« (1996)

Libuse Monikova: »Verklärte Nacht« (1996)

Prag in »Taumel« (2000)

In Libuse Monikovas Romanen treten Figuren auf, die an ihrer Gegenwart oder Vergangenheit leiden und sich aus verschiedenen Gründen als Opfer der Zeit fühlen. Einer dieser Helden ist auch der akademische Maler Jakub Brandl, Professor an der Kunstakademie, der Protagonist ihres letzten, leider unvollendeten Romans »Der Taumel«. Dieses Buch spielt in den siebziger Jahren, also in der Zeit der sogenannten Normalisierung, der Zeit der Unterdrückung und Angst. Jakub Brandl ist krank und wird er wiederholt von der Staatssicherheit verhört. Damit ist nicht nur der Rahmen für den Romanaufbau festgelegt, sondern auch für die politischen Verhältnisse, in denen sich die Figuren bewegen. Verhöre und Schikanen bilden die lebensbestimmenden Bedingungen der auftretenden Figuren.

Auch im Roman »Taumel« zeigt Prag wieder ein ganz anderes Gesicht, das in Verbindung mit der Handlung steht - der Totalitarismus der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird in diesem Buch überall sichtbar, unter anderem auch an vielen Stätten und Orten der Stadt:

Er steigt zur Letná – Höhe hinauf, an planierten Überresten des Stalin - Denkmals vorbei, Grössenwahn in Quadern, über Bunkern aufgebaut, hinter Gittern. Die Katakomben hinter den mit Eisendornen versehenen Ketten sind nicht zugänglich; ein Streifen Rasen von hier bis zur Burg, das ganze Jahr hindurch grün, der Schnee bleibt nie liegen. Die Mythen, die sich um diese unterirdischen Gänge rankten, um ihren Zweck und ihre Bestimmung, einigten die Bevölkerung - und die Witze. Über das Monster, über die grandiose Lächerlichkeit, Sinnlosigkeit und Verschwendung. Die ungeheure Fratze im Profil der Stadt mit ihrer barocken Pracht, ihrer wirbelnden, bewegten Statuen an Palästen, Brücken, Kirchen. Der Taumel, der Tanz dieser gestalteten Steine, die vergeistigte Dynamik vertrugen sich nie mit der asiatischen Stumpfheit der Befreier von ´45.[13]

Die Welt des barocken Stadtviertels am linken Moldauufer mit zahlreichen Adelspalästen und der magischen Atmosphäre auf der einen Seite, die Welt der sozialistischen Bauten und Statuen als Gegensatz dazu auf der anderen Seite; Zwecklosigkeit, Lächerlichkeit, Sinnlosigkeit, Verschwendung - dies sind die Hauptcharakteristika, mit denen Monikova solche Monumente beschreibt. Zwei verschiedene Pole der Architektur, zwei verschiedene Gesichter der Stadt. Die Atmosphäre von Unsicherheit, Angst und Unterdrückung unterstreicht Monikova auch mit weiteren Momentaufnahmen - herausgerissene Bäume, auf der Strasse eine alte Frau mit Blindenstock, die keinen Durchgang zwischen parkenden Autos finden kann, Schlangen vor den Geschäften, Schlangen vor den Regalen. 'Der Mangel organisiert das Leben. Dafür die Netztaschen, für alle Fälle, wer weiss, was es gerade gibt.'[14]

Libuse Monikova: »Der Taumel« (2000)

Libuse Monikova: »Der Taumel« (2000)

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann man sagen, dass es bei Monikova immer um das »Image« der Stadt geht. Aus diesem Grund wurden ihre Werke im Ausland sehr oft auch als literarische Reiseführer rezipiert. Die Stadt wird jedoch nicht nur als magisch und geheimnisvoll gepriesen, sondern auch nüchtern und kritisch beschrieben, dabei wird sie zur Zeugin der historischen Begebenheiten, zur Erbin der Vergangenheit und zur eigentlichen Heimat erhoben.

Prag funktioniert in Monikovas Texten nicht nur als Abbild der Wirklichkeit, sondern auch als Vision, als Stadt der Träume und des Imaginären (in »Verklärte Nacht« und vor allem in »Pavane«).

Die Wahrnehmung der Stadt erfolgt aus der Sicht der einzelnen Figuren, die sich entweder an die Geschichte erinnern, oder als Stadtbewohner bzw. deren Besucher Prag zu Fuss durchschreiten. In diesem Fall bleibt dann die Beschreibung der Stadt und der damit zusammenhängenden Geschichten auf die Spaziergängerperspektive der Protagonisten beschränkt.

Allgemein kann man also sagen, dass für Monikovas Figuren das Spazierengehen eine Quelle von Anregungen ist. Mit konkreten Orten sind konkrete Geschichten und historische Begebenheiten verbunden, die dann im Anschluss ausführlich erzählt oder zumindest angedeutet werden. Durch die Präzision der Angaben ist der Leser meistens sehr gut orientiert. Auf jeden Fall bezeugen Monikovas Texte, dass Prag auch im 20. Jahrhundert seine Ausstrahlung bewahrt hat.


[1] Vorstellung neuer Mitglieder. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, 1993, S. 181
[2] Libuse Monikova: Prager Fenster. Carl Hanser Verlag. München Wien 1994
[3] Eine Schädigung. Deutscher Taschenbuchverlag. München 1990, S. 8
[4] Ebd., S. 200
[5] Ebd., S. 190
[6] Verklärte Nacht, S. 25, ähnlich auch in »Der Taumel«, ähnliche Einstellung auch bei Brandl
[7] Verklärte Nacht, S. 6
[8] Verklärte Nacht, S. 34
[9] Ebd., S. 34, 35 einige Sätze habe ich dabei ausgelassen
[10] Ebd., S. 36
[11] Ebd., S. 35 – 36
[12] Verklärte Nacht, S. 65
[13] Der Taumel, S. 19 – 20
[14] Ebd., S. 71

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